“Ich habe einen Traum”- der Ötztaler Radmarathon

Ötztaler-Radmaraton-2017-Eva-Selten ein Rennen, um das sich soviel Mythen ranken wie um “den Ötztaler”. Zum einen sicherlich dadurch, dass man sich bei diesem Rennen nicht einfach anmelden kann, wie bei den meisten anderen Rennen. Nein, die Startplätze werden (bis auf einige Ausnahmen) “verlost”... das heißt, man meldet sich im Februar an, und erst Monate später erfährt man, dass man dann doch keinen Startplatz bekommen hat…

So zumindest ist es mir (Eva) drei Jahre lang ergangen. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht sein sollte, oder doch eher froh, dass mir bis dato diese Strapazen erspart geblieben sind…
Doch heuer war es dann doch soweit, denn nach drei Jahren erfolglosem Anmelden sichert einem der Veranstalter einen Startplatz zu… quasi als “Lucky Loser”...

Zum anderen ist es natürlich die extreme Distanz, offiziell 238 km, gespickt mit 5500 Höhenmeter über 4 Alpenpässe (Kühtai, Brennerpass, Jaufenpass und Timmelsjoch). Und nicht nur die Distanz ist nahezu einmalig, nein, ein ganz besonderer Luxus für alle Rennradler ist es, die 238 km auf nahezu autofreien Straßen abspulen zu dürfen. Denn der Veranstalter sperrt an diesem Tag (und heuer erstmalig auch schon am Freitag im Rahmen des Pro 5500 Ötztaler Profirennens) bis auf wenigen Kilometer die gesamte Strecke für den normalen Autoverkehr.

Heuer hatte ich also, genauso wie mein Mann, mein Bruder und glücklicherweise einige Bekannte das Glück, am Start des Ötztaler Radmarathons stehen zu dürfen. Eine Unterkunft war gleich nach der Bestätigung des Startplatzes gebucht, eine kleine Frühstückspension direkt an der Startlinie, besser gehts nicht. Da ich nach der Bike Transalp im Juli irgendwie nicht mehr wirklich in meinen Trainingsalltag zurückgefunden habe, hatte ich, um es auf den Punkt zu bringen, die Hosen gestrichen voll. Ich wusste zwar, wie sich 211 km auf dem Bike anfühlen, Salzkammergut Trophy sei Dank, aber auf dem Rennrad? Um mich an die andere Übersetzung und die andere Sitzposition auf dem Rennrad wirklich zu gewöhnen, dafür habe ich einfach zu wenige Stunden und Kilometer auf dem Rennrad verbracht. Aber ich wusste, nicht nur ich muss leiden, auch all diejenigen, die im Vorfeld brav ihre Trainingskilometer absolviert haben, kommen spätestens am Timmelsjoch an ihre Grenzen. #nomimimi 😉

Wir reisten am Samstag an, und schon bei der Fahrt ins Ötztal hinein konnten wir erahnen, was uns erwartete. Nicht nur Autokolonnen wälzten sich Richtung Sölden hinauf, nein, auch unzählige motivierte Rennradler waren unterwegs. “Warmfahren” oder “Wettkampf-Vorbereitung” nennen es die einen. Da es zum Großteil braungebrannte, kleine, dünne, glatzköpfige Italiener mit frisch rasierten, glänzenden Beinen und sündhaft teuren Pinarello, Colnago oder De Rosa Rennrädern waren, nun ja, lässt mich eher vermuten, dass es sich mehr um ein “Posen” und ”Präsentieren” handelte… 😉 Also nicht falsch verstehen, ich liebe Italien und Dolce Vita, aber wenn man selber dann mit einer nicht ganz Rennrad-typischen Figur und einem Rennrad, dessen gesamter finanzieller Wert nicht mal annähernd an einzelne Komponenten dieser Rennmaschinen herankommt, am Start steht, verstärken sich natürlich die Selbstzweifel, ob man bei so einer Veranstaltung überhaupt etwas zu suchen hat.

Nach unserer Ankunft in unserem Domizil kam die wohlbekannte Routine auf, Startunterlagen holen, “Gegner” oder eher “Leidensgenossen” begutachten, nervös werden, im Getümmel irgendwo einen Kaffee trinken, nervöser werden, Essen gehen, noch nervöser werden, Rad herrichten, den Tränen nahe sein, weil dieses Gefühl, viel zu wenig trainiert zu haben, plötzlich über einen hereinbricht, und man weiß, jetzt is es zu spät… da musst du jetzt durch….
Die Nacht war erstaunlich gut, obwohl mir im Traum mehrmals der blaue BMW, auf dem mit großen Buchstaben “SCHLUSSWAGEN” aufgedruckt war, und mit dem keiner Bekanntschaft machen will, unterkam.

Um kurz vor halb 5 war Tagwache, aber nicht, weil der Wecker läutete, sondern weil vor unserem Haus an der noch nicht mal aufgebauten Startlinie schon bis in die Haarspitzen motivierte Niederländer herum nervöselten. Startschuss war um 6:45 Uhr, offizielle Startaufstellung AB 05:30 Uhr… Nun ja, ich hatte jetzt nicht unbedingt den Eindruck, dass diese Fahrer um den Sieg mitfahren konnten, aber der Kampf um die vordersten Startplätze ist beim Ötztaler fast legendär. Nicht ganz ohne Grund, denn wer etwas länger im Bett bleibt, steht gleich mal 1 Kilometer von der Startlinie entfernt…. Vom Ertönen des Startschusses bis zum Start der hinteren Startplätze vergeht da eine (nicht nur gefühlte) Ewigkeit.

Das Wetter war soweit mal gar nicht schlecht, etwas kühl, aber trocken, und der Wetterbericht verhieß zumindest bis am frühen Nachmittag nichts Schlechtes.
Kurz vor dem Start kam dann nochmals die obligatorische Rennbesprechung (oder “Fahrerbriefing”, wie es auch so schön heißt), in der auf die wichtigsten zwei Dinge hingewiesen wurde: ACHTUNG! Weidevieh auf der gesamten Strecke möglich, und BIS 19:30 das TIMMELSJOCH erreichen, ansonsten wird man mit dem Besenwagen ins Ziel kutschiert, die absolute Horrorvorstellung für jeden Teilnehmer.
Nach dem Start ging es von Sölden runter nach Ötz, gute 30 Kilometer in rasantem Tempo bergab. Davor hatte ich ehrlich gesagt schon etwas Angst, denn in einem so großen Teilnehmerfeld, Rad an Rad, mit Höllentempo die Straße runterzupreschen, war neu für mich. Aber erstaunlicherweise war es relativ entspannt, keine Kämpfe um Plätze… wahrscheinlich, weil jeder wusste, dass man auf den ersten Kilometern kein Rennen gewinnen würde, aber das Leben verlieren kann.
Dann gings bergauf… lange… und auch steil.. max. 18% aufs Kühtai… obwohl ich natürlich mit Pulsuhr fuhr, ignorierte ich meine Werte komplett und fuhr zum allerersten Mal ein Rennen “nach Gefühl”, im Gegensatz zu vielen anderen Fahrern, die einen genauen Plan hatten, wann wie lang bei wieviel Watt usw... dies hatte zur Folge, dass mich zwar anfangs viele Fahrer überholten, aber als ich bei der ersten Karenzzeit sah, dass ich fast 1 ½ Stunden “Bonus” hatte, wusste ich, “des kunnt se ausgeh”...
Zwischen zig Radfahrern und noch mehr Kühen erreichte ich das Kühtai, rasant dann die Abfahrt… meine Uhr zeigte als Höchstgeschwindigkeit 107,4 km/h an…. no more words needed… der Gedanke an einen Sturz wurde stets mehr oder weniger gut verdrängt… nicht auszudenken, was wäre, wenn :-()

Ötztaler-Radmarathon-Kuh

Der Brennerpass war als nächstes zu bewältigen, am Höhenprofil sah er “nett” aus, weil relativ flach... nur leider hatte ich die Rechnung ohne den Gegenwind gemacht, und dadurch, dass ich irgendwie wieder das Pech hatte, keine Gruppe zum Windschattenfahren zu erwischen, zermürbte mich auch die “moderate” Steigung Richtung Brenner hinauf… Aber noch waren die Beine gut, ich versuchte, regelmäßig zu trinken und zu essen...wobei Essen sich auf die Einnahme von Gels beschränkte, weil zu meiner Enttäuschung die Labestationen nicht wirklich überzeugten. Zähe Kornspitz und trockene Kuchen, Wasser, warmes Pepsi und Red Bull, nicht wirklich das, was ich brauchte. Die Suppen, die es gab, waren zwar herrlich salzig, aber bei den Temperaturen nicht wirklich nötig. Aber #nomimimi

Am dritten Pass, dem Jaufenpass, merkte ich, dass meine Beine nicht mehr so richtig wollten, aber die Gespräche mit anderen Radfahrern lenkten mich etwas von den Gedanken an die noch vor mir liegenden Kilometern ab….
Die Abfahrt vom Jaufenpass war lang und kurvig, doch entgegen vieler Aussagen war die Straße gut, anscheinend wurde hier viel ausgebessert, denn die Jahre zuvor mussten die Fahrer mit fiesen Schlaglöchern und gefährlichen Längsrillen rechnen.

Dann kam sie, die berühmte Auffahrt zum Timmelsjoch. Anfangs irgendwie ziemlich enttäuschend, denn es war unspektakulär, von St. Leonhard rauf ging es viel im Wald, ohne Aussicht, kein Pass weit und breit. Dazu kam, dass es heiß war… richtig heiß… die Durchfahrt durch die Tunnels brachte leider auch keine erhoffte Abkühlung, im Gegenteil… Wie sehr sehnte ich den für den späten Nachmittag vorausgesagten Regen herbei…. Aber die Sonne knallte unerbittlich auf uns herab, und so glaubte ich schon an eine Fata Morgana, als ich kaltes Wasser aus einer Kraftquelle den Felsen herunterlaufen sah… Ich versuchte, vom Rad zu steigen, ohne Krämpfe in den Beinen zu bekommen, was mir leider nicht gelang, und so hockte ich dann dort, nahezu bewegungsunfähig, aber den Kopf unter eiskaltem Wasser.

Jetzt wusste ich, nun musste mein Kopf das Rennen beenden, denn die Beine konnten es nicht mehr. Die letzten zwölf Kilometer bergauf standen mir noch bevor, und damit die mit Sicherheit härtesten Kilometer… Als sich nun endlich nach der vorletzten Labe das Ungetüm Timmelsjoch in seiner ganzen Erbarmungslosigkeit präsentierte, war ich wirklich kurz vorm Aufgeben… Aber ich wusste, ich würde lange auf den Besenwagen warten müssen, denn eigentlich lag ich gut in der Zeit… und warten ist nichts für mich, deswegen rauf aufs Rad, weiter gehts…

Ötztaler-Radmarathon-2017-Eva
Auf gut 2000 Meter Seehöhe, wo es temperaturtechnisch sowieso eher schon an den Winter erinnert, kam sie dann, die noch kurz vorher so heiß ersehnte Schlechtwetterfront. Und die brachte Wind, Regen und Kälte mit. Meine Beine waren leer, alles, worauf ich mich konzentrieren konnte, war das Ende einer jeden Serpentine. Und ich fragte mich, warum ich in der Schule Physik hatte, denn theoretisch muss sich der Gegenwind, den man in die eine Richtung hat, in Rückenwind verwandeln, wenn sich die Straße in die andere Richtung dreht. Aber denkste, nix, Gegenwind in alle Richtungen. Toll… Zu meinem Erstaunen konnte ich plötzlich doch wieder im Stehen pedalieren, ohne Krämpfe in den Oberschenkeln zu bekommen, und so wuchtete ich mich irgendwie hoch bis zum Tunnel am Timmelsjoch. Dort suchten viele Fahrer Schutz vor Wind und Wetter, aber ich hatte keine Zeit zum stehenbleiben, zu tief sitzt bei mir noch immer die Enttäuschung von Bad Goisern 2015, wo ich auf der Extrem-Distanz der Salzkammergut Trophy 20 km vor dem Ziel gestoppt wurde, weil das Rennen wegen eines Unwetters abgebrochen wurde. Fast ungläubig, es fast geschafft zu haben, machte ich noch einen kurzen Zwischenstopp, um mir doch meine Regenjacke anzuziehen, denn bis auf einen kleinen Gegenanstieg, den ich mir viel viel schlimmer vorgestellt hab (oder ich kann mich einfach nicht mehr dran erinnern), gings in strömendem Regen runter nach Sölden. Und erst an der Mautstation Timmelsjoch, beim Schild “Du hast es geschafft, genieß die letzten 20 Kilometer bis ins Ziel”, realisierte ich wirklich, dass es tatsächlich geschafft ist.

Die Zieleinfahrt in Sölden war einfach ein wahnsinnig schönes Erlebnis, obwohl ich, völlig durchnässt und durchgefroren, das Gefühl in sämtlichen Extremitäten auf der Abfahrt liegen lassen habe. Aber mit solch kleinen Kollateralschäden kann ich mittlerweile gut leben, denn das Gefühl, nicht nur die Distanz und die Höhenmeter, sondern auch die eigenen Selbstzweifel besiegt zu haben, ist einfach unbeschreiblich befriedigend.
Meine Zeit? 11 Stunden irgendetwas, also weit entfernt von gut, aber nachdem ich mir nur vorgenommen habe, den Ötztaler auf dem Rad und NICHT im Besenwagen zu beenden, bin ich trotzdem ganz zufrieden.
Obwohl ich mir selber versprochen habe, den Ötztaler nur genau ein einziges Mal zu fahren, bin ich mir sicher, dass ich im Februar, sobald die Anmeldung für den Ötzi offen is, wieder am PC sitz und meine Daten eintippe….

In diesem Sinne, Kette links 😉

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